Freitag, 21. Oktober 2011

Der tiefe Fall

Der Ausflug nach Iguaçu wird mir bestimmt als eine der letzten Episoden meines Lebens entfallen wenn dereinst der Alzheimer Gnade vor Recht walten laesst. Es hat schon bei der Anreise begonnen. Kurz vor Boarding stuermt ploetzlich ein Krampfaderngeschwader aus deutschen Landen ungefaehr in Reisebusstaerke die Abflugshalle. Alle in diesen in beige und braun gehaltenen Allwetterjacken und -hosen mit der Wolfstatze, quasi das Eternit der Bekleidungsindustrie. Dazu Schuhe die irgendwo zwischen steigeisenfaehigen Himalaya-Patscherln und orthopaedischen Gesundheitsschuhen, wie sie ueberwuzelte Demel-Kellnerinnen gerne tragen, angesiedelt sind. Ich muss zugeben ich wurde ob meiner Adjustierung in Shorts und T-Shirt etwas nachdenklich. Habe ich etwa die Wetterprognose fuer das falsche Iguaçu gelesen? Gibt es zwischen der argentinischen und der brasilianischen Seite womoeglich derartige Temperaturgegensaetze? Bewegen sich die Hoehenunterschiede gar in Dimensionen von zwei- bis dreitausend Meter und nicht nur ein paar hundert Meter?

Kaum gelandet stelle ich erleichtert fest, dass es um 19:00 Uhr angenehme 28 Grad hat und die Sonne scheint, also habe ich doch die richtige Prognose gelesen. Keine Ahnung was in die Teutonen gefahren ist, vielleicht wandern sie bis Weihnachten von hier bis zum Kap Hoorn oder die durchwegs aelteren Semester sind seit Stalingrad grundsaetzlich immer auf das Schlimmste vorbereitet.

Das wars dann aber auch schon mit den guten Nachrichten fuer den Tag. Iguaçu liegt im Dreilaendereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay. Um das richtig einzuordnen stelle man sich die Gegend zwischen Znaim und Kleinhaugsdorf vor einer Gaucho Western-Kulisse vor. Spielcasinos, Nachtclubs, Duty Free-Shops fuer Schnaps, Zigaretten, Elektronikartikel etc. so weit das Auge reicht. Und vor allem - massive Ausrichtung am Massentourismus, die ganze Gegend wirkt wie eine Abfertigungsmaschinerie fuer Bustouristen. Dass die Stadt nach dem Kraftwerksbau in den Achtzigern extrem schnell gewachsen ist und ausgerechnet Libanesen die drittgroesste Bevoelkerungsgruppe stellen macht es auch nicht eben besser. Um es auf den Punkt zu bringen, es ist ein Ort wo man sich als Mann ohne Schiesseisen und Pick Up-Truck spontan unwohl fuehlt.

Damit koennte man ja noch leben wenn man in einem Hotel untergebracht ist wo man von all dem nichts mitbekommt. Die wenigsten Tuerkei- oder DomRep-Urlauber bringen ihr eigenes Klopapier mit und nehmen die ausgemergelten Esel samt Besitzer bestenfalls als pittoreske Kulisse zwischen zwei All Inclusive-Seideln wahr. Nicht so beim Sparefroh vom Alsergrund. Meine Absteige muss auch schon Che auf seiner Suedamerikatournee 1952 beehrt haben, und ich fuerchte der Tag seiner Abreise war auch der letzte wo sie richtig sauber gemacht und Bettwaesche und Handtuecher gewechselt haben. Vielleicht gibt es doch so etwas wie die Vorsehung und all die Naechte in tristen Absteigen zwischen Minsk und Banja Luka sollten mich auf diesen Augenblick vorbereiten.

Das Angebot des hoteleigenen Restaurants habe ich nach Inspektion der Nassraeume in meinem Zimmer dankend abgelehnt. Erst am naechsten Tag klaerte mich ein Texaner aus Austin auf dass man die Churrascaria durchaus riskieren kann, weil sie das Fleisch solange am Griller lassen bis optisch kein Unterschied mehr zu den Briketts besteht was (neben allen anderen Naehrstoffen) die Bakterien und Krankheitserreger abtoeten soll. Man lernt nie aus.

Nun gut, jetzt bin ich schon mal hier und muss das Beste daraus machen. Am Flughafen habe ich mir bereits eine Karte des Ortes besorgt und mache mich also per pedes auf dem Weg Richtung Zentrum. Dass ich diese Zeilen ueberhaupt noch schreiben kann ist pures Glueck, rein statistisch eigentlich unmoeglich. Die Strasse Richtung Downtown ist definitiv nicht fuer Fussgaenger vorgesehen, so eine Art Autobahn mit zwei Spuren in jede Richtung und einem betonierten Gehsteig samt einer notduerftigen Beleuchtung (immerhin) in der Mitte (sic!). Einer Eingebung folgend habe ich mich in Rio entschlossen nicht mit Havaianas (vulgo Flip Flops) sondern mit meinen Laufschuhen anzureisen. Ein weiteres Danke an meine Schutzengel, ohne diese spontane Bauchentscheidung haette ich jetzt den Grundkurs fuer Fakire absolviert.

Waehrend links und rechts von mir also die Opel Kapitaen, Ford Taunus und aehnliche Autos meines Jahrgangs mit einem Affenzahn vorbeischiessen, und das mit einem Sicherheitsabstand dass ich gerade nicht die Aussenspiegel (sofern noch vorhanden) beschaedige, irre ich auf dem mit Scherben, Reifen und Metallteilen uebersaehten Mittelstreifen Richtung Innenstadt. All die Wrackteile lassen mich zweifeln, ob sie bei dem Tempo mit diesen Oldtimern wirklich in jeder Situation rechtzeitig Bremsen oder Ausweichen koennten. Bloss, was hilfts. Irgendwann werde ich stutzig wie lange das wohl noch dauert, und ein Blick auf meine Karte zeigt mir, dass das "Zentrum" bereits hinter mit liegt.

Also Kehrt Marsch! Was ich von aussen als eine Lagerhalle oder einen Schweinestall neben der Tankstelle ausgemacht hatte ist in Wirklichkeit die "Cataratas JL Shopping Mall". Ein weiterer Beweis, dass man sich nie von Aeusserlichkeiten leiten lassen darf. Oder so. Einmal drin bin ich positiv ueberrascht, es gibt hier neben allerlei Unfug (exemplarisch sei ein Elektronikgeschaeft erwaehnt das in seiner Auslage die neuesten Smartphones praesentiert - in einem Kaff ohne UMTS-Netz! Aber gut, wie aufmerksame Leser seit Hong Kong wissen, diese Geraete dienen ja in erster Linie zum Solitaer- und Tetris-Spielen) auch einen Supermarkt. Ich bin gerettet!

Mangels Flaschenoeffner fallen lokale Spezialitaeten wie "Haus Hoffmann" oder "Eisenbahn" ebenso weg wie Schneider Weisse, Erdinger oder Kulmbacher. Meine Bier-Theorie bestaetigt sich jedoch selbst am Wurmfortsatz Brasiliens! Immerhin "Bohemia" gibt es in Dosen, und so decke ich mich mit Bier und Sandwich ein, um nach heil ueberstandenem Rueckweg moeglichst schnell die noetige Bettschwere zu haben; die paar klaeffenden Strassenkoeter und ein um ein Haar zu spaet bemerkter fehlender Kanaldeckel sind zu dem Zeitpunkt kaum mehr als eine Randnotiz wert.

Am naechsten Tag ist im Morgengrauen Tagwache, die weltgroessten Wasserfaelle warten. In aller bolivarischen Verbundenheit haben sich die drei Laender so arrangiert, dass man den Besucher nach Moeglichkeit in jedes Land zum Geldausgeben schickt. Das Standardprogramm lautet einen Tag den Fluss und die Faelle "von oben" auf der argentinischen Seite zu sehen, am folgenden Tag die Wasserfaelle "von unten" auf der brasilianischen Seite zu bewundern und anschliessend fuer den Itaipu-Staudamm und zum Einkaufen nach Paraguay zu fahren. Ueberhaupt wird hier schwerstes touristisches Kaliber aufgefahren, der Ort ist mit Reisegruppen aus Indien, China, Amerika und Europa nur so ueberschwemmt und sie versuchen wirklich alles aus einem rauszupressen.

Fuer Familien gibt es das volle "Action" Programm von Canyoning ueber Ponyreiten bis zu Zoobesuchen, um die Brieftaschen aus aller Welt moeglichst lange an den Ort zu binden. Da ich aber nicht zum Ponyreiten gekommen bin (dafuer eignet sich Rio besser) habe ich die Angelegenheit mit Helikopterrundflug und einem zielorientierten Kurzbesuch auf der brasilianischen Seite des Nationalparks abgekuerzt. Man kann sich das aehnlich vorstellen wie im Louvre in Paris, man hetzt in der Masse wie ein Gestoerter durch die Korridore, laesst die alten Meister links liegen und stuermt geradewegs auf die Mona Lisa zu, sprich zur Aussichtsplattform vor dem Wasserfall.

Nun zum Eigentlichen. Die Wasserfaelle sind in der Tat ein beeindruckendes Naturschauspiel und wiegen alles andere mehr als nur auf! Ein Wow-Erlebnis wie der Grand Canyon, man ist aus der Luft, zu Wasser und am Boden einfach nur sprachlos und ueberwaeltigt. Eleanor Roosevelt wird der Ausspruch nachgesagt, dass sich die Niagara-Faelle daneben mickrig ausnehmen; wer bin ich einer First Lady zu widersprechen! Um es auf meine Art auszudruecken: Krimml ist nicht mal eine Pissoirspuelung dagegen.

Trotzdem war mir das extreme Touristen-Melken bald zu viel. Nach dem Eindruck dieser Naturgewalten hatte ich kein Interesse an Vogelparks, Gaucho-Shows, indianischen Brauchtumstaenzen und sonstigem Schnickschnack und bin dem Wahnsinn einen Tag frueher als geplant zurueck nach Rio entflohen. Home sweet home, nach diesem Ausflug in die Pampa weiss ich die Vorzuege einer Grossstadt wieder zu schaetzen.